Gestern war Michaelitag. Bis zu unserer Waldorfzeit war dieser 29. September für mich einfach nur mein Namenstag. Erst vor etwas mehr als 20 Jahren habe ich im Waldorfkindergarten das Brauchtum des Michaelifestes kennen gelernt und später auch als Kindergärtnerin miterleben dürfen. Das Michaelifest gehört in Waldorfeinrichtungen zusammen mit Sankt Martin und dem Nikolaustag traditionell zu den drei Jahresfesten, die die Kinder auf Weihnachten vorbereiten und einstimmen sollen. Mit Michaeli beginnt die Lichterzeit, weshalb ich mir zu Hause immer vornehme, erst ab diesem Tag morgens vor der Schule auf dem Frühstückstisch eine Kerze anzuzünden. Daraus ist in diesem Jahr wieder einmal nichts geworden – schon kurz nach den Sommerferien habe ich morgens ein Kerzchen angezündet, denn wenn wir um 6.30 Uhr aufstehen und die Kinder kurz darauf ihr Müsli essen, ist es noch ziemlich dunkel und Kerzenschein ist mir für den Tagesbeginn doch lieber als die Esszimmerlampe.
In der Offenbarung des Johannes steht geschrieben, dass Sankt Michael mutig mit seinem (Licht-)Schwert gegen den Drachen (Sinnbild für das Böse/den Teufel) gekämpft und diesen besiegt hat (apropos Lichtschwert – in der Erziehungskunst habe ich kürzlich einen sehr interessanten Artikel dazu gelesen).
Im Waldorfkindergarten wird die Michaeli-Geschichte den Kindern natürlich nicht wortwörtlich erzählt, sondern vielmehr durch Reigen und und andere Angebote altersgemäß und bildhaft erlebbar gemacht. Meine beiden Großen haben z.B. in ihrem letzten Kindergartenjahr während der Michaelizeit als Schulkinderarbeit ein Michaelischwert aus dicken Ästen geschnitzt und golden bemalt, es werden Mutproben veranstaltet (balancieren, klettern,…), goldene Kronen gebastelt, sinnhafte Geschichten erzählt und Michaeli-Lieder gesungen… Der Michaelitag selbst wird natürlich ganz besonders gefeiert, oft in Verbindung mit dem Erntedankfest.
An unserer Waldorfschule findet in der vierwöchigen Michaelizeit das schulinterne Herbstfest statt (von den Lehrern für die Kinder vorbereitet) – an diesem Tag werden nicht nur Kürbislichter geschnitzt und Apfelsaft gepresst – die Kinder können auch ihren Mut erproben, indem sie z.B. mit Gurten gesichert einen möglichst hohen Turm aus Getränkekisten stapeln, um währenddessen auf diesen klettern, u.a. werden Balancierkämpfe veranstaltet und am Ende des Festes zischt unter Gejubel ein selbst gebauter Drachen (Schüler und Chemielehrer) mit viel Getöse quer über den Schulhof.
Mein Lieblingslied aus der Kindergarten-Michaelizeit und dazu das erste, das ich vor vielen Jahren auf der pentatonischen Leier spielen gelernt habe (nach wie vor ist es das Lied, mit dem ich meine Leier stimme, bzw. versuche zu stimmen):
"Wenn ich groß bin, wenn ich groß bin, so groß wie die Welt, dann werd ich gewisslich ein Ritter und Held. Wenn ich stark bin, wenn ich stark bin, so stark wie ein Stier, erschlag ich im Walde das Drachengetier. Und die Erde und der Mond und die Sterne sind all mein, die Sonne soll auch für den Rittersmann sein"
(Marianne Garff)
Inzwischen gehen unsere beiden Kleinsten schon in die 3. Klasse – wie sehr all das, was sie während ihrer Zeit im Waldorfkindergarten Jahr für Jahr erlebt und in sich aufgesogen haben noch immer in ihnen wirkt, hat sich mir am Michaelitag wieder einmal sehr eindrücklich gezeigt: Mittags haben wir, genau wie früher im Kindergarten, ein großes Schwertbrot gebacken (ich habe mir vor Jahren extra dafür mal ein großes Holzbrett angeschafft). Abends habe ich das Schwertbrot in die Tischmitte gelegt und die Kinder gerufen, um den noch ziemlich voll gepackten Tisch abzuräumen, damit Platz für Geschirr ist. Anstatt mir dabei zu helfen, hat einer meiner Buben allerlei andere Sachen gebracht und mit zu allem anderen auf den Tisch gelegt. Ich war schon etwas ungeduldig und kurz vor einer Schimpftirade, bis ich bemerkt habe, dass mein Bub mit den Worten „warte Mama, ich mache etwas…“ sorgfältig den blauen Samtumhang auf dem Tisch ausbreitet. Beim Anblick des Umhangs war mir augenblicklich klar, warum mein Kind plötzlich so besonnen all die Dinge sucht, bringt und auf den Tisch legt – sie gehören doch zum Michaelifest. Ganz ohne mein Zutun hat er alles (im wahrsten Sinne des Wortes) in die Hand genommen – und ich hab` ganz still und ziemlich sehr gerührt den Tisch abgeräumt, Becher und Teller geholt, die Milch aufgewärmt (und nebenbei einige Bilder gemacht).
(unser Schwertbrot erscheint auf dem Bild wegen der Dunkelheit drum herum etwas verbrannt,
das war aber nicht 😉
Ganz wichtig – die goldene Krone (zugleich eine festliche Umrandung für die Streichhölzer)
Kerzen
Ein silbernes Ritterhemd und das goldene Schwert (das inzwischen 17 Jahre alt ist) der großen Schwester
ein Schutzschild
Sehr wichtig war eine passende Karte – leider haben wir keine Michaeli-Karte in unserer Sammlung gefunden, aber die hier war in der Not wohl auch gut genug
Zum Glück haben die Kinder mit ihrem Papa neulich Kastanien gesammelt
Alles hübsch dekoriert – zu den Kastanien gesellen sich Rosen und Clematisranken aus dem Garten…
…und ein großer Krug warmer Milch zum Schwertbrot (honiggesüßt mit Rosinen)
Vielleicht lässt sich ein bisschen erahnen, wie sehr gerührt und zufrieden ich mich am Abend schlafen gelegt habe…
Gute Nacht am letzten Septemberabend,
Michèle ♥
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